Im Freilichtlabor des Amsterdamer Institute for Advanced Metropolitan Solutions (AMS) haben Forscher gerade erfolgreich ein mit Torqeedo Motoren ausgestattetes Roboterboot getestet, das Roboat. Die mobile Wende für die klimafreundliche Stadt der Zukunft betrifft Menschen und Waren, aber auch: Abfall. Bald könnte Roboat der Amsterdamer Müllabfuhr Konkurrenz machen und dann sogar um die Welt gehen.
Ynse Deinema strahlt vor Stolz. Entschlossen schnappt er sich den schwarzen Müllsack und geht mit energischen Schritten zur Kaimauer. Dann wirft er den Sack in die schwarze Klappe des kompakten Metallboots, das im Testbecken des Amsterdamer Institute for Advanced Metropolitan Solutions, kurz AMS, an der Mauer angedockt hat. Der Müllsack rutscht hinein. Die Klappe schließt sich wieder. Die blauen Augen des 34-Jährigen leuchten. „Ist das nicht großartig?“, sagt der AMS-Projektkoordinator von Roboat, dem autonom fahrenden Elektromobil auf dem Wasser.
Deinema hat Neurowissenschaften, Management und Entrepreneurship studiert. Er war schon immer „verrückt nach Booten“, wie er sagt. Seine Liebe zur Robotik entdeckte der leidenschaftliche Segler an der Technischen Universität Delft. Während Roboat leise mit seiner Beute, dem Müll, durch das Testbecken tuckert, beobachten Deinemas Teamkollegen alles am Laptop vom Ufer aus.
„Man muss ihm nur sagen, wo es hinfahren soll. Den Rest macht es ganz allein“, sagt Deinema und blickt auf das Wasser, wo Roboat auf seine emissionsfreie, beinahe elegante Art umherfährt. Deinema sagt es ein bisschen wie ein Vater, dessen Kind gerade die ersten Schritte lernt. Heute sei der Endpunkt einer fünfjährigen Lern- und Testphase, in der sein Team von Ingenieuren Roboat entwickelt habe. „Klar bin ich stolz. Das war harte Arbeit und nur in einem tollen Team zu schaffen“, sagt Deinema.
Noch ist Roboat ein Prototyp. Doch gerade die schmalen und überfüllten Kanäle Amsterdams sind ein ideales Testgebiet für autonom fahrende Boote.
Um autonom und kollisionsfrei navigieren zu können, nutzt Roboat Sensoren und Kameras, die ein 360-Grad-Sichtfeld erschaffen. Dank dieser „Wahrnehmungsausrüstung“ kann Roboat lernen, seine Umgebung zu verstehen. Wenn Roboats Wahrnehmung ein neues Objekt aufschnappt, beispielsweise ein Kanu, markiert der Algorithmus das Objekt als „unbekannt“. Später sichtet das Team die Daten, wählt dieses Objekt manuell aus und gibt ihm den Namen „Kanu“. Auf diese Weise wird der Algorithmus mit der Zeit darauf trainiert, die Leistung des menschlichen Auges zu übertreffen.
Ein menschlicher Schwimmer steigt ungeplant ins Testbecken. Deinemas Teamkollegen rufen ihm zu, dass hier gerade eine Vorführung stattfindet. Doch das interessiert den älteren Herrn wenig. Er schimpft und schwimmt seelenruhig weiter. Doch auch ein Schwimmer kann diesen herrlichen Tag nicht vermiesen. Zur Sicherheit warnt er sein Team noch einmal vor dem Schwimmer. Etwas menschliche Kontrolle kann nicht schaden. Der Algorithmus muss noch üben.
Und doch gehorcht Roboat mittlerweile so gut, dass die nächste Phase beginnen kann: die der Kommerzialisierung. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis Roboat in den Reihen der Amsterdamer Müllabfuhr durchstarten kann. Geplant sind auch Einsätze im Personenverkehr.
Torqeedo sponserte das Antriebssystem bei dem Boot. „Wir bei Torqeedo sehen in der Sache riesiges Potenzial. Gerade die Kombination aus Elektrotechnik und Automatisierung bietet enorme Chancen“, sagt Lukas Timcke, Applikationsingenieur bei Torqeedo, dem Unternehmen, dessen Elektroantrieb für Roboat im Einsatz ist.
Doch bevor Roboat in Amsterdam herumfahren darf, müssen noch ein paar juristische Fragen geklärt werden. Da macht sich AMS-Projektkoordinator Deinema aber überhaupt keine Sorgen: „Wir arbeiten sehr eng mit der Stadt zusammen. Überhaupt sind die Niederlande sehr aktiv dabei, mit Forschern und Unternehmern über klimafreundliche Innovationen für den urbanen Raum zu sprechen“, sagt Deinema.
Ynse Deinema leitet am AMS Institute das Roboat-Projekt. Bis 2025 müssen alle Boote im Stadtgebiet Amsterdam auf Elektromotoren umgestellt werden.
Die Niederländer sind nicht nur Meister darin, zwischen verschiedenen Interessengruppen einen Konsens herbeizuführen, sie haben auch einen hohen Handlungsdruck. Nicht erst seit der Meeresspiegel steigt, ist das kleine Land durch seine besondere geografische Lage¬ – rund ein Viertel des Landes liegt unterhalb des Meeresspiegels – dazu gezwungen, an fortschrittlichen Lösungen zu arbeiten.
Früher wurden die Amsterdamer Grachten ausgiebig für den Handel genutzt, aber ihre Bedeutung nahm im 20. Jahrhundert immer weiter ab. Zurzeit fahren nur Touristen und Einheimische auf ihnen herum – zum reinen Vergnügen. Dabei ist das Potenzial der Wasserstraßen für die infrastrukturelle Versorgung riesig. Roboat soll dieses Potenzial nun wieder zum Leben erwecken.
„Automatisierte Elektromobile auf dem Wasser können in Zukunft viele Probleme der modernen Städte lösen“, sagt Alexander Oswald, Leiter Applikationsanwendungen bei Torqeedo. Die Anwendungsbereiche seien unbegrenzt, sagt er. So könnten durch die emissionsfreie und platzsparende Technik enorme Kosten und Zeit gespart werden. „Denkbar sind Bereiche wie Warenlieferungen, Massentransporte und Datenerfassungen“, sagt Oswald.
Wer denkt, das klinge nach einer weit entfernten Zukunft, sollte sich genauer anschauen, was gerade in Amsterdam passiert. Die Stadt gilt als lebendes Labor für die zukünftige Elektromobilität auf dem Wasser. Als eine der ersten Städte der Welt hat Amsterdam sich für das Modell der Donut-Ökonomie entschieden. Entwickelt von der britischen Wirtschaftswissenschaftlerin Kate Raworth, formuliert es die Bedingungen für ein nachhaltiges Wirtschaften. Dabei ergibt sich der Spielraum für wirtschaftliches Handeln aus den vorhandenen ökologischen und sozialen Grenzen, die in einer Grafik, die dem Donut ähnelt, dargestellt sind.
Roboat wird von zwei Torqeedo Cruise Motoren angetrieben, die das Boot um 360 Grad in jede Richtung bewegen können.
Vizebürgermeisterin Marieke van Doorninck treibt den Umbau der Stadt in diese Richtung voran. Ihre Ziele lauten: Kreislaufwirtschaft und Ressourcenunabhängigkeit. „Das Tolle an der Donut-Ökonomie ist, dass sie einen umfassenden Rahmen bietet, in dem ökologische und soziale Ziele zusammenkommen“, sagt van Doorninck. Ab dem Jahr 2025 sind in Amsterdam nur noch Elektroboote auf dem Wasser erlaubt. Und ab 2050 will die Stadt unabhängig von externen Ressourcen sein.
Van Doorninck scheint fest entschlossen zu sein: Sie will ihre Stadt wieder lebenswerter machen. Roboat kann hier einen ganz konkreten Beitrag leisten. Denn die herkömmlichen schweren Müllautos verursachen Stau in den schmalen Straßen der Altstadt, stoßen schmutzige Luft aus und beschädigen die denkmalgeschützten Brücken und Mauern um die Grachten. Die Infrastruktur Amsterdams stammt aus dem 17. Jahrhundert und ist nicht gemacht für die Herausforderungen einer modernen Stadt mit rund 900.000 Einwohnern, in die jährlich bis zu 20 Millionen Touristen strömen. Auch die Luftqualität soll sich radikal verbessern.
In Sachen „Stadt der Zukunft“ kennt sich auch Carlo Ratti bestens aus. Der Forschungsleiter von Roboat begleitet das AMS bereits von Beginn an und ist so eine Art großer Denker des Projekts. Der gelernte Architekt und Ingenieur ist Professor am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT). Er arbeitet als Designer und Unternehmer, pendelt zwischen New York, Singapur, Boston und Turin. Ihm geht es immer um die eine Sache: urbane, nachhaltige Konzepte für die Zukunft.
Carlo Ratti ist Professor am MIT in Boston und leitet dort das Senseable City Lab. Als wissenschaftlicher Partner erforscht Ratti neue Mobilitätskonzepte auf der ganzen Welt.
„Was wir hier heute sehen, ist das Resultat von sehr viel Denkarbeit. Wir haben fünf Jahre lang geforscht, getestet und Prototypen gebaut. Es ist toll, dass Roboat wirklich funktioniert. Es ist unser Baby“, sagt der 50-jährige Italiener. Ihm schwebt vor, dass Roboat nicht nur Müll oder Waren transportiert, sondern auch Menschen, als Minifähre oder Taxi. Neben Crystal 2, dem Roboat, das den Müll abtransportieren soll, liegt Lucy 1, der zweite Prototyp, der für den Transport von Personen gedacht ist. Fünf Menschen haben darin Platz. Die Fahrt im Testbecken unter freiem Himmel kann losgehen. Roboat beschleunigt überraschend schnell, seine Navigation im Wasser ist wendig, die Fahrt angenehm ruhig – eine kleine Auszeit auf dem Wasser, durchaus entspannend.
Und das sei noch nicht alles, sagt Ratti. „Man kann Roboat auch als schwimmendes Pixel betrachten. Als dynamisches Element der städtischen Architektur, mit dem man eine Brücke oder eine schwimmende Bühne bauen kann. Mittels eines seitlichen Rastmechanismus können sich mehrere Roboats zusammenschließen. Wenn man das Wasser einer Stadt mitdenkt, entsteht eine neue urbane Infrastruktur“, so Ratti.
Wer einmal versucht hat, schadlos mit einem Motorboot durch die schmalen und viel befahrenen Amsterdamer Grachten zu manövrieren, weiß, wie viel Feingefühl dafür nötig ist. Dass die Amsterdamer auf ihren Grachten autonom fahrende Boote vielleicht nicht gern sehen, glaubt Ratti nicht: „Wir haben vor Kurzem bei Tests zu autonom fahrenden Autos in Singapur gesehen, dass die Menschen offen dafür sind, wenn man ihnen die Möglichkeit gibt, die Dinge selbst auszuprobieren. Wir müssen die Leute mitnehmen, damit sie die Technologie kennenlernen können. Wir müssen Technologie demokratisieren.“
In vielen Städten gibt es mehr Wasserwege als asphaltierte Straßen – die Entwicklung und Nutzung dieser Flächen wird in einer nachhaltigen Zukunft immer wichtiger werden.
Andere Städte wie Venedig, Dubai und Stockholm seien auch an Roboat interessiert. Tatsächlich sind es immer häufiger Bürgermeister, die sich freiwillig entschließen, die Klima- und Energieziele der EU zu erreichen oder gar zu übertreffen. Dem weltweiten ‚Konvent der Bürgermeister für Klima und Energie‘ gehören mittlerweile knapp 11.000 Städte und Gemeinden aus 53 Ländern an, Tendenz steigend. Es gibt Hoffnung für das Klima, und diese Hoffnung ist ganz konkret und immer lokal. Projekte wie Roboat weisen uns den Weg.
Mehr Information:
Hochauflösende Fotos finden Sie in der: › Torqeedo Dropbox
Schwimmende Roboter für Amsterdam –
und später für den Rest der Welt
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