Im ecuadorianischen Amazonasgebiet arbeiten das indigene Achuar-Volk, die Kara-Solar-Stiftung und Torqeedo gemeinsam an einer neuen Form der Mobilität: solarbetriebene Flussschifffahrt – unabhängig von umweltschädlichem Straßenbau und der Ölindustrie.
Das schmale, 16 Meter lange Boot mit Solarpanel-Dach und zwei Elektromotoren muss bei seiner ersten Fahrt auf dem Aguarico-Fluss, in der Nähe des Zentrums der ecuadorianischen Ölindustrie, im Jahr 2017 gewirkt haben, als käme es aus einer anderen Welt. Doch je weiter das Solarkanu in Richtung Süden durch den Amazonas-Regenwald fuhr, desto deutlicher wurde das Versprechen des Projekts und die Symbolik seiner Jungfernfahrt. Das Boot wurde auf den Namen Tapiatpia getauft und nach einem riesigen Zitteraal benannt, der der Legende nach einst in den Flüssen des Amazonas lebte und Tiere auf seinem Rücken transportierte.
Die neun Passagiere an Bord der Tapiatpia ließen den Anblick, die Geräusche und den Geruch der Öl- und Gasförderung hinter sich, als sie sich auf den Weg in das unberührte Gebiet der Achuar machten, einer Gruppe indigener Völker, die in einem abgelegenen Gebiet in Ecuador und Peru leben. Die Frage, die sich ihnen stellte, war einfach: Können Elektromotoren und Solarmodule den Achuar helfen, ihre Umwelt und ihre Lebensweise zu erhalten?
Die Solarmodule auf dem Dach der schlanken, 16 Meter langen Boote liefern genug Strom, um sie nach Sonnenuntergang drei bis sechs Stunden lang zu betreiben. Credit: Kara Solar
Die Stiftung Kara Solar ist die Non-Profit-Organisation, die hinter dem Solarkanu steckt. In der Sprache der Achuar bedeutet Kara „ein Traum, der wahr wird“. Seit 2012 arbeitete ein Team aus Ingenieuren und Designern zusammen mit den Achuar daran, den Traum von solarbetriebener Schifffahrt im Amazonasgebiet zu verwirklichen. Sorgfältig wurde jede einzelne Komponente für das System ausgewählt: die beiden elektrischen Torqeedo Cruise Motoren, die Batterien, die Solarmodule.
Oliver Utne, der Gründer von Kara Solar, kam als Tourist nach Ecuador und blieb, um mit den Achuar zu arbeiten. Sofort war ihm das Potenzial von Solarstrom im Amazonasgebiet bewusst: Eine abgelegene Region mit reichlich Sonnenlicht und einem wachsenden Energiebedarf. Anders als andere Elektrobootlösungen in der Amazonasregion benötigt das Solarkanu jedoch keine Ladestationen. Mit seinem Solardach und der Batterie-Bank kann es sogar nachts bis zu sechs Stunden lang fahren.
Utne erinnert sich an die erste Fahrt von Tapiatpia: „Wir mussten eine Deadline einhalten und blieben die ganze Nacht auf, um die letzten Verbindungen herzustellen. Trotz der Müdigkeit und des Stresses war es ein so magischer Moment.“
Ein neuer Transport-Modus
Über viele Generationen lebten die Achuar in nomadischen Familienverbänden. Heutzutage gibt es feste Siedlungen und auf den Flüssen herrscht ein steter Strom von Menschen und Waren. Die meisten Boote werden von fossilen Brennstoffen angetrieben, was zu Wasserverschmutzung führt und die Jagd und den Fischfang der Achuar behindert. Noch dazu ist der Treibstoff teuer, da er eingeflogen oder über weite Strecken per Schiff transportiert werden muss, was ebenfalls Treibstoff verbrennt – ein Teufelskreis.
Seit Jahrzehnten baut die Öl- und Gasindustrie Straßen zur Förderung fossiler Brennstoffe immer tiefer in den Amazonas-Regenwald hinein. In den letzten 50 Jahren sind rund 17 Prozent des Waldes verloren gegangen. Die Abholzung ist nicht nur ein schwerwiegendes Problem für die biologische Vielfalt, sondern verschärft auch die Klimakrise, da sie die Fähigkeit des Amazonas verringert, Kohlenstoff aus der Atmosphäre zu absorbieren.
Indigene Gruppen im Amazonasgebiet leben unter der Bedrohung durch die Ölindustrie, seit in den 1950er-Jahren in Ecuador Öl entdeckt wurde. Einer der Flughäfen, der dem Gebiet der Achuar am nächsten liegt, befindet sich in einer Stadt namens Shell – benannt nach dem Ölkonzern.
Aktuell bewegt sich die Industrie nach Süden in Richtung Achuar-Gebiet. „Sie erweitern ihre Ölquellen. Sie stehlen von uns, ohne uns überhaupt wahrzunehmen. Deshalb stehen wir nun auf, um zu verteidigen, was uns gehört, unsere Heimat, unsere Art zu leben“, sagt Nanut Canelos, Mitglied der Achuar und Projektkoordinator von Kara Solar. Die Achuar lehnen die Öl- und Gasförderung in ihrem Heimatland eindeutig ab. Aber die Verlockung war groß. Schließlich wurden ihre Boote noch mit fossilen Brennstoffen betrieben, und die Straßen und Brücken, die die Ölgesellschaften bauen würden, könnten den Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung verbessern. „Als die Achuar das Potenzial einer benzinfreien Mobilität realisierten, sahen sie es nicht nur als praktisch an, sondern auch als mächtiges Symbol“, sagt Oliver Utne.
Ein erster Schritt in Richtung einer neuen Infrastruktur
Drei solarbetriebene Boote verkehren nun auf den Flüssen der Region. „Tapiatpia war für uns ein erster Schritt hin zu einer alternativen Infrastruktur im Amazonasgebiet“, erklärt Utne. Er stellt sich ein völlig emissionsfreies solares Transportsystem vor, das die Verbindungen zwischen den verschiedenen Achuar-Gruppen weiter stärken soll und den Aufbau einer nachhaltigen Wirtschaft ermöglicht, ohne das natürliche und kulturelle Erbe der Region zu zerstören. Die Achuar nutzen bereits neue Möglichkeiten mit einem Ökotourismusprojekt und einer Bio-Plantage mit Solarkraftwerk.
Das angestammte Land der Achuar umfasst zwei Millionen Hektar dichten Waldes an der Grenze zwischen Ecuador und Peru. Credit: Kara Solar
Das Solarkanu-System wird stetig weiterentwickelt. „Wir arbeiteten nach dem Trial-and-Error-Prinzip“, sagt Utne. Zunächst identifizierte Kara Solar in Studien die Flusssegmente, die am besten zu befahren sind. Dann traf die Führung der Achuar die Entscheidung, dass das Projekt in einem Gebiet gestartet werden sollte, in dem die beiden Flüsse Pastaza und Capahuari auf 67 Kilometer neun Achuar-Gemeinden miteinander verbinden. Torqeedo-Motoren sind bekannt für ihre Robustheit und intuitive Handhabung, aber die Strömung, Strudel und Unterwasserhindernisse erfordern es immer wieder, dass vor Ort Reparaturen durchgeführt werden müssen.
Zu Beginn holte Kara Solar die Techniker von außen. „Nach einer Weile fokussierten wir uns darauf, Techniker vor Ort auszubilden“, erklärt Utne. Durch praktisches Training, Learning by Doing und Youtube-Videos wurden technische Fähigkeiten schnell und einfach vermittelt. Zudem organisierte Kara Solar auch Austauschprogramme mit anderen indigenen Technikern im ganzen Amazonasgebiet. Aktuell gibt es sieben hochqualifizierte Techniker, die nicht nur Teil der Achuar-Gemeinschaft sind, sondern die Kanus auch bis ins Innerste kennen – jede einzelne Verbindung, jeden Draht, jedes Detail. „Mit unserem lokalen Team entfalten nicht nur die Boote ihr volles Potenzial, sondern es entstehen auch neue Projekte vor Ort“, sagt Utne. Das Team, das von Kara Solar angelernt wurde, installiert inzwischen auch Solar-Pumpen, Beleuchtungs- und Radiosysteme. „Sie sind die Technik-Zauberer der Region“, sagt Utne.
Da die Region so abgelegen ist, hat die Kara Solar Foundation einheimische Techniker in Solar- und Elektrotechnik geschult. Credit: Hana Begovic
Derzeit werden vier Achuar-Gemeinden regelmäßig von den Solarkanus angefahren. „Jetzt, wo wir uns konsolidiert haben und in einem kleineren Gebiet zuverlässig arbeiten, beginnen wir zu expandieren“, erklärt Oliver Utne. Sie hatten gerade die Optimierung der Boote abgeschlossen, als die Covid-19-Pandemie ausbrach. Der monatelange Lockdown bedeutete, dass kein Benzin mehr geliefert wurde, und so waren die Solarkanus die einzige zuverlässige Möglichkeit für die Menschen, sich fortzubewegen. Sie erwiesen sich als unverzichtbar für die Landwirtschaft, die Lebensmittelversorgung und den Transport der Menschen zu Kliniken und Schulen.
„Das Projekt ist zu einer zentralen Dienstleistung geworden“, sagt Nantu Canelos, „Wir leben am Ufer des Flusses Pastaza, aber die Obstplantagen liegen anderswo entlang des Flusses, sodass die Bootsrouten für unsere lokale Wirtschaft lebenswichtig sind.“ Die Boote, fügt er hinzu, erfüllen auch eine wesentliche „soziale Funktion“: Um wichtige Entscheidungen zu treffen, versammeln sich die Achuar noch immer in großen Gemeinschaftshäusern. Die Kanus ermöglichen Bewegung, Verbindungen und einen demokratischen Diskurs. Seit Beginn der Pandemie hat Kara Solar über 200 Fahrten mit einer durchschnittlichen Länge von zwölf Kilometern durchgeführt. Die Auswirkungen sind messbar.
Indigene Gruppen sind oft die Ersten, die die Folgen des Klimawandels zu spüren bekommen. Die Achuar stehen in dieser globalen Krise an vorderster Front, da sie versuchen, den Amazonas-Regenwald mithilfe von Projekten wie Kara Solar zu schützen. Wie Oliver Utne es ausdrückt: „Wenn die Achuar eine Zukunft in ihrer Heimat sehen, werden sie den Wald schützen. Der Planet hängt davon ab.“
Mehr Information:
Hochauflösende Fotos finden Sie in der: › Torqeedo Dropbox
Den Hauptkatalog 2022 finden Sie hier: › Katalog 2022
Relevante Torqeedo Produkte
Ein Traum wird wahr
- Technologie
- Vision