Seit Jahrhunderten bringt man Menschen und Waren in sogenannten Börtebooten auf die Nordseeinsel Helgoland. Wenn das Leben nach dem Lockdown wieder an Fahrt aufnimmt, wird erstmals eines der alten Eichenboote von einem Torqeedo Elektromotor angetrieben werden. Wie kommt die moderne Technik bei den traditionsbewussten Inselbewohnern an?
Rainer Hatecke hat Hunderte von Booten ausgeliefert. Er war gerade einmal sechs Jahre alt, als er erstmals von Freiburg an der Elbe nach Helgoland schipperte, um ein neues Börteboot auszuliefern. Damals saß er auf dem Schoß seines Großvaters. Heute betreibt der 57-Jährige die Werft in fünfter Generation und hat die mehr als 100 Kilometer lange Strecke zur Nordseeinsel schon viele Male zurückgelegt. Rainer Hatecke hat fast alle 10 Meter langen und 8 Tonnen schweren Holzboote, die die Helgoländer für den Transport von Gütern und Passagieren verwenden, auf der Bootswerft Hatecke gebaut.
Trotzdem wirkt Hatecke fast ein wenig nervös, als er vor der traditionellen Jungfernfahrt mit der Inselprominenz noch kurz im Aufenthaltsraum der Börteboot-Kapitäne vorbeischaut; sitzt da, in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen eine Kaffeetasse, hinter sich an der Wand Fotos verstorbener Seemänner, und redet für einen, dem Nordseewind nichts anhaben kann, erstaunlich schnell. Wie, scheint er sich zu fragen, kommt das neue Börteboot, das er in seiner Werft gebaut hat, bei den Helgoländern an?
Das Börteboot „Pirat“, das Hatecke am Vortag nach Helgoland gefahren hat, wurde bereits Jahr 1962 gebaut und nun in seiner Werft generalüberholt. „Ich habe mal wieder so richtig Grund reingebracht“, sagt er. Er hat morsche Bretter gegen neue ausgetauscht, Fugen versiegelt und den Piraten gestrichen, wie alle Börteboote in Grün-Rot-Weiß, so wie die Inselflagge. Am Heck hat er etwas Grundlegendes verändert: Der Pirat ist das erste von mehr als hundert Börtebooten, das elektrisch angetrieben wird. Hatecke hat den alten Dieselmotor entfernt und durch einen Torqeedo Deep Blue 50i ersetzt. „ePirat“ steht am Bug.
Als Rainer Hatecke zum ersten Mal Boote nach Helgoland lieferte, war er sechs Jahre alt und saß auf dem Schoß seines Großvaters. Im Jahr 2019 brachte er das erste elektrische Börteboot auf die Insel.
Wie kommt das bei den traditionsbewussten Inselbewohnern an? Was halten sie von der modernen Technik? Was sagt der Bürgermeister? Hatecke ist klar, dass diese Probefahrt kritischer beäugt wird als andere.
Wohlstand durch Offshore-Windparks
Ein Elektromotor in einem mehr als 50 Jahre alten Boot? Die Geschichte beginnt im Jahr 2011, als Jörg Singer, ein braun gebrannter 53-Jähriger mit gegelten grauen Haaren und kantiger Brille, zum Bürgermeister von Helgoland gewählt wurde. „Helgoland war damals voll am abschmieren“, sagt Singer. Die Wirtschaft der Insel war lange Zeit auf den Tourismus angewiesen: 800.000 Besucher kamen pro Jahr, die meisten von ihnen für einen Tagesausflug, um zollfrei einkaufen zu können. Dann änderte sich die Zoll-Regeln, und die Zahl der Touristen ging um mehr als 60 Prozent zurück. Angesichts dieser schwierigen Wirtschaftslage beschloss der neue Bürgermeister, in die Zukunft zu blicken und auf erneuerbare Energien zu setzen.
Die Offshore-Windparks um Helgoland produzieren bis zu 900 Megawatt saubere Energie.
Drei große Offshore-Windparks liegen heute vor der Küste dieser Hochseekommune. Das Hotel Atoll Ocean Resort an der Uferpromenade hat seinen Hotelbetrieb eingestellt, weil sich Windkraftarbeiter in allen Zimmern eingemietet haben. Doch Bürgermeister Singer sieht weit mehr als Einkommensstabilität und einen willkommenen wirtschaftlichen Segen, wenn er von den legendären Klippen neben der „Langen Anna“ aus die Windturbinen am Horizont sieht.
In den letzten 50 Jahren, so Bürgermeister Singer, sei die Wassertemperatur in der Nähe der Insel um 1,6 Grad gestiegen. Der Kabeljau ist verschwunden, und die kommerzielle Fischerei ist nicht mehr rentabel, ein weiterer Schlag für die fragile Wirtschaft. Inspiriert von Bürgermeister Singers Vision für die Zukunft und unter dem Eindruck des Klimawandels haben sich die Helgoländer verpflichtet, die Kohlenstoffemissionen der Insel bis 2025 zu beseitigen, um ihre Heimat zu retten. Die neue Nachhaltigkeitsstrategie ist bei den Touristen gut angekommen: 2018 verzeichnete die Insel fast 400.000 Besucher, was einem Anstieg von rund 30 Prozent entspricht.
Die Mannschaft der Börteboote holt Touristen von den Schiffen ab, die zu groß sind, um in den Hafen der Insel einzulaufen.
Wenn man die Gespräche an Bord der Fähren aus Hamburg verfolgt, hat man schnell den Eindruck, dass Jörg Singer alles richtig macht. „Man kann nicht einfach weitermachen wie bisher“, sagt eine Dame, die mit ihrem Mann und ihrem Enkel die Insel besucht. Es sei absolut notwendig, die Umwelt zu entlasten. Ein allein reisender Herr meint, dass es gut sei, wenn im Kleinen aufgezeigt werde, wie sich Klimaziele umsetzen lassen. Vielleicht motiviere das ja die große Politik, konsequenter zu handeln.
Das Motto: „Islands for Future“
Bürgermeister Singer triff sich regelmäßig mit den Bürgermeistern anderer Inseln, um sich über Nachhaltigkeitsziele auszutauschen. „Islands for Future“, das ist das Motto dieser Treffen, angelehnt an Greta Thunbergs „Fridays for Future“. Das neue Auto der Inselpolizei fährt mit Strom. Und auf der vor der Hauptinsel im Wasser gelegenen Düne stehen seit Kurzem zwei „Wikklehouses“, niederländische Minibungalows aus Pappe, vollständig recycelbar. Das mit Abstand Symbolträchtigste und Gewagteste aber, was Singer unternommen hat, ist es, den Piraten mit einem Elektromotor auszustatten.
Ein Naturparadies: Das Ziel Jörg Singers, des Bürgermeisters von Helgoland, ist es, den Kohlenstoffausstoß der Insel bis 2025 zu eliminieren und klimaneutral zu werden.
Für viele Menschen wäre Helgoland ohne Börteboote nicht Helgoland. Sie sind Teil der maritimen Geschichte der Insel und wurden im Dezember 2018 zum immateriellen Kulturerbe Deutschlands erklärt. Nicht alle Inselbewohner und nicht alle der 15 fest angestellten Besatzungsmitglieder sowie der vielen jungen Seemänner, die ihren Lebensunterhalt an Bord verdienen, wünschen sich Veränderung an den historischen Booten.
In den Sommermonaten befördern acht dieser Boote Besucher von Passagierschiffen vom deutschen Festland zum Helgoländer Hafen. Vier Männer sitzen in den Börtebooten, wenn sie von den Landungsbrücken aus starten. Hinten an der Ruderpinne ein gestandener Kapitän, vorne eine mit einem Enterhaken ausgestatte Person, die darauf achtet, dass die Boote so stabil wie möglich neben der Schiffsluke im Wasser liegen. Außerdem zwei junge Seeleute, die dafür sorgen, dass die bis zu 45 Passagiere zügig hinüberkommen. Sie haken sie unter den Armen ein und hieven sie an Bord – für viele Gäste ein großer Spaß. Die Börteboot-Crew jedoch weiß, was bei dieser Prozedur alles schiefgehen kann. Eine unerwartet hohe Welle, ein Fehltritt – und der Passagier fällt ins Wasser oder, schlimmer noch, hängt zwischen Boot und Schiff. Entsprechend konzentriert geht sie vor.
Mit dem ePiraten werden am ersten Tag nach seiner Rückkehr noch keine Touristen an Land geholt. Das Boot liegt zunächst fest vertaut an den Landungsbrücken und tankt Energie über ein dickes Kabel. Dann bricht Hatecke mit Bürgermeister Singer, Brückenkapitän Bernhard Wellnitz und dem rauschebärtigen Holger Bünning, der die jüngeren Besatzungsmitglieder anführt, zur Probefahrt auf.
Ein anderer Fahrstil
Die Wellen lassen den ePiraten hin und her schaukeln, die Männer jedoch bleiben unbeirrt. Rainer Hatecke erzählt, wie der Umbau verlaufen ist. „Das hat supergut funktioniert“, sagt er. Er habe den Dieselmotor ausgebaut und durch einen leichteren Elektromotor ersetzt. Eine Batterie wurde zum Heck hin installiert. Rainer habe es dann einem Torqeedo Experten überlassen, den Akku mit dem Bordcomputer und dem Propeller zu verbinden. Er wisse nur zu gut, wie stark Salzwasser ein Boot angreifen könne. Also wurde das System ausgiebig getestet, um sicherzugehen, dass mit der Elektronik alles hundertprozentig korrekt ist, es nirgendwo durchnässt.
Mithilfe der Torqeedo Spezialisten baute Rainer Hatecke den alten Dieselmotor aus und ersetzte ihn durch einen leichten Elektromotor, der durch die Nordwellen fährt.
Bürgermeister Singer schwärmt davon, wie leise und geruchlos der ePirat ist, anders als die knatternden und qualmenden Dieselboote. Einig sind er und Hatecke sich darüber, dass die Börteboot-Mannschaft, die Hatecke als „absolute Vollgas-Fahrer“ bezeichnet, lernt, effizienter zu fahren, während sie das emissionsfreie Boot steuert. Brückenkapitän Wellnitz, auf dem einen Unterarm die Tätowierung einer Rose, auf dem anderen die eines Segelschiffs, ist zunächst tatsächlich skeptisch, ob der 50-kW-Motor stark genug ist, um bei ordentlichem Wellengang zu bestehen. Und er ist damit unter den Seebären nicht der Einzige, der Zweifel hat. Bei der Börteboot-Regatta gewinnt der ePirat dann aber überraschend den Titel – und wird nächstes Jahr in einer höheren Klasse antreten.
Die Jungfernfahrt des ePiraten war ein Erfolg. Bürgermeister Jörg Singer im Rathaus von Helgoland.
Bürgermeister Singer und Rainer Hatecke sind zufrieden mit der Jungfernfahrt. Bald sollen weitere sieben Börteboote der Gemeinde umgerüstet werden, und sie erwägen, die elektrischen Passagierboote für Fahrten zu den kleineren Inseln oder zur Vogelbeobachtung in den Naturschutzgebieten zu nutzen. „Eigentlich waren die Börteboote die meiste Zeit emissionsfrei unterwegs“, sagt Singer, „viele Jahrhunderte wurde gerudert – dann kam in den 80er-Jahren die Dieselepoche. Und nun beginnt eine neue Zeit.“
Offene Gewässer: Brückenkapitän Bernhard Wellnitz drückt mit tätowiertem Arm den Torqeedo Gashebel herunter.
Viele junge Helgoländer sind begeistert. Jana-Pauline Toben und Lea Claasen zum Beispiel, die auf dem Festland aufs Gymnasium gehen und als Ferienjob beim Ein- und Ausbooten aushelfen. „Dass der Pirat einen Elektromotor bekommen hat, ist eine gute Werbung für unsere Insel. Es zeigt, wie fortschrittlich wir sind“, sagt Jana-Pauline Toben.
Rainer Hatecke glaubt, dass bald auch die Skeptiker so begeistert sind wie die beiden Helgoländer Mädchen. Als die Probefahrt beendet und er wieder an Land ist, wirkt er erleichtert. Er bleibe nun noch ein, zwei Tage auf der Insel, um sich zu entspannen, erzählt er.
Mehr Informationen:
Hochauflösende Fotos finden Sie in der: › Torqeedo Dropbox
Den Produktkatalog 2020 finden Sie hier: › Katalog 2020
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